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Thelma - homo digitalis

Endlich ein Film, der sich aus dem Wust der retrophilen uninspirierten Filme abzuheben weiß, dessen Stil und Inhalt dermaßen konvergieren, wie es im Kino selten zu sehen ist. Der neuste Film des norwegischen Regisseurs Joachim Trier erzählt die Geschichte einer jungen Frau namens Thelma, die ihr Elternhaus verlässt, um zu studieren und einen Platz in der Welt zu finden. Dieses Verlassen ist kein Entreißen, kein sich aggressiv Emanzipieren, sondern ein nacktes „In die Welt geworfen sein“, bei dem die bekannte Ordnung (die Regeln und Lebensweise der Eltern) ins Wanken geraten.

Kontrollverlust

Zunächst ist es verwunderlich, dass die Ordnung eine mythische, nämlich religiöse ist. Also eine durchaus abstrakte Lehre, die in das heutige naturwissenschaftliche Verständnis nur schwer zu integrieren sein mag. Und wenn nun die Ausbruchsversuche Thelmas aus dieser Ordnung sich wiederum durch paranormale Ereignisse gebärden, scheint das wie ein realgewordener Rückfall in die Elternordnung zu sein. Was wir sehen, ist jedoch keine verrückte Christin, die mit der Lebensweise der außerelterlichen Welt nicht zurechtkommt, sondern eine suchende Protagonistin, die ein unbewusstes Widerstreben in sich hat, der modernen technizistischen auf rohe Kausalitäten beruhenden Welt zu entsprechen. Darin steckt eine Absage an die Eltern, aber auch eine Absage an die Welt, überhaupt an jede erklärbare Ordnung.

Es kommt wie ein Klischee daher, dann die Liebe als das Moment des Ausbruchs zu setzen. Aber was Trier inszeniert, ist keine kitschige Rosarote-Brillen-Phantasie, sondern der sehnlichste Wunsch nach distanzloser Verbundenheit, der mal in Begehren, mal in Hass umschlägt und von Grund auf Angst, Kopflosigkeit und Rausch bedeutet. Der Wille, die räumliche Distanz im Abstrakten wie im Realen vollkommen zu überwinden bedingt den Verlust der Gravitation, der naturwissenschaftlichen Ordnung. In keinem Moment verliert sich der Film in schmalzige oder theatralisch aufgeblasene Bilder. Er ist ein Melodrama mit dem Ernst eines erschütternden Horrorfilms. Das ordnungsvernichtende Innere der Protagonistin kehrt sich zugleich nach außen. Erst zuckt ihr Körper unerklärbar epileptisch, danach verschiebt sich der Raum. Die Identitätssuche und der Liebeswunsch Thelmas scheitern in der Welt der kausalen Ordnung und kehren sich destruktiv nach innen, bis jegliche Erklärbarkeit, die Struktur von Raum und Zeit, von Innen und Außen zerfallen und Phantasie und Realität zu einer kohärenten Einheit verschmelzen. Von einer absoluten Ordnung in die nächste geworfen, ist es die Liebe, die eben jene Ordnungen durch Kontrollverlust zunichtemacht.

Digitalität

Was Thelma zu einem innovativen und modernen Film macht, ist sein Bezug und seine Aussage über die explosionsartig fortschreitende Digitalisierung. Wo die meisten Filme der Zeit sich davor scheuen Instagram oder Facebook als Kommunikationsmedien nur zu erwähnen und sich lieber in archaische mythisch-religiös anmutende Heldengeschichten zurückflüchten, setzt Thelma das Digitale als Dreh- und Angelpunkt des Kontrollverlustes seiner Protagonistin und seiner Welt. In einer ersten privaten Begegnung Thelmas und der Person, die sie begehrt, meint jene eine SMS von Thelma bekommen zu haben, die nicht existiert. In einer Gruppe von Studierenden fragt Thelma einen jungen Mann, ob er denn erklären könne, wie sein Handy funktioniert: er kann es nicht und gerät in Bedrängnis. Auch das Verschwinden und Auftauchen von Menschen ist unmittelbar an digitale Kommunikation gekoppelt. So spiegeln Thelmas paranormale Erfahrungen nur das wider, was in der digitalen Gesellschaft ohnehin schon unbemerkt und ohne Erklärung passiert: Das Blockieren, das Löschen, Kopieren und Verschieben von Identitäten. Von der religiösen Glaubensordnung in die ebenso hörige Glaubensordnung digitaler Illusion von Kausalität und Berechenbarkeit. Thelma ist der homo digitalis.

Die stilistisch versierte Wiedergabe eines solch unnahbaren und modernen Themas machen Thelma zu einer Ausnahmeerscheinung des zeitgenössischen Kinos und zu einem Film, dessen Wert wohl erst in Zukunft erkannt werden dürfte.