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Die Vergessenen - Unterschwelliger Surrealismus

Luis Bunuels neorealistisches Frühwerk richtet seinen Blick auf die Randseite der Gesellschaft, auf die Slums Mexico-Citys. Eingangs verkündet die Off-Stimme, man habe es mit einer wirklichen Geschichte und einem tatsächlich existierenden Sozialproblem zu tun. Anders, als in seinen späteren Filmen, hält sich Bunuel in „Die Vergessenen“ an eine realistische Darstellungsweise, die lediglich durch zwei Träume durchkreuzt wird. Allerdings sind auch hier schon Charakterzeichnung und Figurenkonstellation soweit freudianisch aufgeladen, dass die neutralen Bilder durch die Narration einen traumähnlichen Anstrich erhalten.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Pedro, dessen innigster Wunsch es ist, von seiner verwitweten Mutter geliebt und gelobt zu werden, die sichtlich unter dem Verlust ihres Mannes und Pedros Vater unter einer allgemeinen Lebensverbitterung leidet und den Wunsch Pedros mit ihrer kalten Miene unerfüllt lässt. Dagegen schafft es der gerade aus dem Gefängnis entlassene Jaibo die Mutter zu umgarnen und zu verführen und verwickelt ihren Sohn zugleich in seine kriminellen Machenschaften. Bis Letzterer zum Zeugen eines Mordes Jaibos‘ wird.

Der Film schafft es, die innere Tragik des Ungeliebtseins auf unverhohlene Weise wiederzugeben. Indem die erwachsenen männlichen Figuren als am Leben gescheiterte Rüpel dargestellt werden, ist zugleich die patriarchalische gebrochene Gesellschaft gezeichnet. Die Männer sind hier entweder benebelt durch Alkohol, blind vom Krieg, oder haben sich bereits damit arrangiert, ihre Augen bewusst vom Elend abzuwenden. In allen Fällen ist der jugendliche Tatendrang zu einem passivischen Zynismus verkommen. Die vaterlose Leere, die Pedro verspürt, wird dann durch Jaibo besetzt, ein moralloser Krimineller. Pedros Geborgenheitswunsch trifft auf Gewalt und Intrige.

Als Sinnbild für die Vaterlosigkeit steht ein kleiner Junge, der auf dem Marktplatz auf seinen Vater wartet. Dieser kommt jedoch nie an. Im freudianischen Sinne bedeutet das Fehlen des Vaters in erster Linie eine verarmte Ausprägung des Über-Ichs und somit der Moral und des Gewissens. Die Vergessenen haben keinen Vater, denn es sind diejenigen, die mit dem Elend zusammen am Fuß des Berges zurückgelassen werden, oder wie es der Film in Bilder bannt: abgeladen werden. Erst im institutionellen Rahmen, in einem Heim, erfährt Pedro die Güte und das Vertrauen einer Vaterfigur, was jedoch nicht lange währt, da ihn das Slum zurückfordert.

Der Film ist durchdrungen von Symbolen und einzelnen Einstellungen, die schon in sich das Potenzial einer Geschichte tragen. Neben der unterschwelligen Kritik am Christentum, die durch die mitunter auch selbst auferlegte Unmündigkeit des Blinden angedeutet wird, oder die Handlungslosigkeit der Frau, wird zudem die Problematik des Klassensystems in ikonische Metaphern gekleidet: Hart arbeitende schwitzende Kinder, die das Pferdekarussell mit ihren schmächtigen Körpern im Kreis vorantreiben, um den geputzten Damen und Kindern mit teuren Kleidchen die Rundfahrt zu ermöglichen. Der sinnlos sich fortspinnende Kreislauf des Übels, der auf dem Rücken der „Vergessenen“ ausgetragen wird. Solche Bilder beherrscht Bunuel. In einer Einstellung sind bereits eine Mikrogeschichte und die notwendige Gesellschaftskritik enthalten. Aufgrund dieser verdichteten Erzählkunst fehlt jedoch mitunter die Luft zum Atmen, die einem die notwendige Reflexion ermöglichen würde. Selbst in Bunuels deutlich narrativerem Film verbergen sich surrealistische Konzepte, die jedoch in ihrer realistischen Repräsentation kaum affektive Wirkkraft entfalten, jedoch für eine kognitive Reflexion zu wenig Raum lassen.