CounterCulture
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Ein Essay über randseitige (Film-)Kultur - Gewidmet dem Randfilmfest

Was heißt es einem Film abseits des Mainstreams eine Bühne zu geben? Wie lässt sich ein Wertesystem nachzeichnen, dass in bekannte Allgemeinheit und in das schwer aufzufindende, sich dem müden Blick zunächst entziehende, Besondere teilt? Und was bedeuten die Wertungen, die damit verbunden sind, für die Identität der Individuen und die Stellung des Subjekts in der Gesellschaft?

Das Ideal einer die Sehgewohnheiten und die vorherrschenden Normen durchbrechenden Kunst ist kein Überhistorisches. Gerade in Zeiten technischer Reproduzierbarkeit ist es zu einem allseits vernehmbaren Verlangen geworden, das sich in einer unstillbaren Suche nach Neuem und vielleicht auch die bekannten Werte erschütternden Erfahrung widerspiegelt. Das Reisen an einen exotischen Ort, das Essen von Ungewohntem, das Spielen mit einem noch ausgefallenerem Sexspielzeug und eine noch avantgardistischere Melodie. Das Durchschnittliche und Unaufgeregte lässt sich aus intellektueller Sicht zumeist nur noch in die Ecke schlechten oder fehlenden Geschmacks verbannen. Aus einem elitär errichteten Wertekatalog heraus erscheint es als Massenware in einer ökonomischen Maschinerie entmündigter Subjekte, aber kaum mehr artifiziell.

Andreas Reckwitz hat in seiner umfassenden soziologischen Analyse „Die Gesellschaft der Singularitäten“ eben dieses Phänomen als ein historisch Gewachsenes facettenreich nachgezeichnet. Er beschreibt eine Gesellschaft, in der die Individuen ständig dazu angeleitet sind, ihre Sichtbarkeit unter Beweis zu stellen, um als eine Identität unter vielen noch erkannt zu werden. Einer Logik des Allgemeinen (die hintergründig fortlaufenden Reproduzierungsmechanismen repetitiver Internet- oder Maschinenalgorithmen beispielweise) steht die vordergründige Logik des Besonderen entgegen, dessen ausgeprägteste Form das gesellschaftlich komplett Ausgeschlossene wäre. Das Singuläre steht nach Reckwitz genau dazwischen: es ist besonders genug, um als singulär und dem Allgemeinen entgegenlaufend zu gelten, aber ist zugleich sichtbar auf einer gesellschaftlichen Bühne innerhalb ökonomischer und institutioneller Strukturen.

„Der Bedeutungsgewinn der sozialen Logik der Singularitäten in der Spätmoderne ist in beträchtlichem Maße darauf zurückzuführen, dass Idiosynkrasien, aber auch Exemplare des Allgemein-Besonderen in Singularitäten transformiert werden. Zugleich gewinnt die Erschließung von Singularitäten mittels Parametern des Allgemein-Besonderen an Bedeutung, wodurch eine breite Palette von Singularitäten gesellschaftlich bewirtschaftbar wird und zu florieren vermag.“ (Reckwitz, S. 56)

Nun scheut sich Reckwitz gleichzeitig nicht davor, darin ein neues klassenunterscheidendes Merkmal zu erkennen. Tradierte Werte und das Altbekannte erscheinen als Überbleibsel einer alten bürgerlichen Mitte oder einer neuen Unterklasse, denen das kulturelle Knowhow fehlt, sich als singuläres Subjekt mit außergewöhnlichen Interessen zu vermarkten. Jeder muss sich auf ganz besondere Weise entfalten. Das Ausführen eines althergebrachten handwerklichen Berufs gilt dann beispielsweise als unattraktiv und wenig überraschend/affizierend (bis es wiederum kulturell „singularisiert“ wird).

„Etwas gilt (nur dann) in der Welt, wenn es interessant und wertvoll ist, und das heißt: wenn es singulär ist, wenn es affektiv anspricht und authentisch scheint. Konsequenterweise erwartet das spätmoderne Subjekt diese Einzigartigkeit auch von den anderen Subjekten – und von sich selbst.“ (Reckwitz, S. 147)

Aus dem von Reckwitz gebotenen Blickwinkel wirkt das Hochhalten des Randseitigen jetzt weniger revolutionär und fruchtbar, sondern vielmehr als eine neue reaktionäre Herrschaftspraktik zum gesellschaftlichen Ausschluss des Schlichten, das von einer kulturell ungehörten neuen Unterklasse praktiziert wird. In einem solchen System ist jede Gegenkultur, sobald sie in der gesellschaftlichen Logik integriert ist und somit erst auf einer breiten Fläche sichtbar wird, zum Scheitern verurteilt und ihres progressiven Charakters beraubt. Wer sich in einzigartiger Weise gegen die etablierten Normen stellt, bedient im Moment des erhört Werdens gerade wieder den gesellschaftlichen Mechanismus der Exklusion der und des allzu Normalen. Die Counter Culture ist längst in die Kultur integriert.

Wie lassen sich denn dann noch Umschwünge entfachen und lässt sich das Absonderliche überhaupt noch bedenkenlos genießen? In einem früheren vorbereitenden Buch („Die Erfindung der Kreativität“) schlägt Reckwitz vor, sich auf die Praktiken des Allgemeinen zu konzentrieren und das gelungene Handwerk und die Wiederholung zu würdigen. Aus seinem neuen Werk scheinen diese Ratschläge vergebens. Aber vielleicht kann das Besondere weiterhin im Stillen und in Hinterhöfen stattfinden. Vielleicht kann ein die Werte infrage stellendes Werk erst einmal als Provokation herausgekramt werden, um es sodann wieder weg zu packen. Um aber die Klassenunterschiede abzuflachen, sollte das Randseitige nicht als Kuriosität verehrt oder verachtet werden, sondern ebenso profan begriffen werden wie Coca-Cola. Sich mit einem Werk auseinandersetzen würde dann heißen mit unbefangen Sehen zu entscheiden, was das Werk sein kann in der Welt, ohne es bereits vorgängig in dieser Welt verortet zu haben. Das scheint eine schwerwiegende Aufgabe zu sein und ist zunächst auch nur der klägliche Versuch dem „Markt der Singularitäten“ entgegenzuwirken, aber es ist eine Aufgabe, an der es sich doch zu versuchen lohnen dürfte.

Dem Randfilmfest gewidmet. Auf dem man sich provoziert fühlen darf und dessen dunkle Räume verlassend man zu neuen Sichtweisen aufbrechen oder auch zu alten Gewissheiten zurückfinden kann, alles in allem angestachelt wird zum Denken.


Zitierte Quellen: Reckwitz, Andres: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 3. Aufl. Frankfurt/ M. 2017.