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Das große Spiel - Erfahrungen der Einsamkeit

Eine Frau wendet sich der urwüchsigen Welt unbewohnter Natur zu, um dem Wesen der Einsamkeit nachzusteigen. Um sodann den Urstoff zu erkunden, der menschliches Miteinander bedingt. Das scheint die selbst auferlegte Aufgabe von Céline Minards Protagonistin in Das große Spiel zu sein.

Die konkrete Handlung des Romans ist schnell erzählt: Die Protagonistin, deren Gedanken wir hören, begibt sich, aus nicht weiter erklärten Gründen, in die menschenlose Wildnis der Alpen. Dort hat sie bereits im Voraus etwaige Maßnahmen getroffen, um den Hürden des abseitigen Lebens zu trotzen. Ihr Alltag besteht in der Pflege ihrer Gartenanlage, dem detailverliebten Putzen ihrer Schlafstätte und im akribischen Vermessen und Inventarisieren der Umgebung. Um Letzteres zu bewerkstelligen, greift sie auf ihre Kletterfähigkeit und ihr Kletterwissen zurück. Nebenbei philosophiert sie über den Urzustand des Menschen (in seiner außersozialen Einmaligkeit) und über die Grundregeln, die das soziale Miteinander ermöglichen und regulieren. Als ihr in der Wildnis ein anderer Mensch begegnet, kann sie diese Regeln konkret entstehen sehen, denn jetzt ist sie dazu angeleitet ihre vermessene Umgebung zu teilen…

Der Titel deutet schon das von Minards Protagonistin herausgearbeitete Grundkonzept menschlichen Zusammenlebens an: Der Punkt, an dem die Einsamkeit sich in Gesellschaft transformiert, an dem aus dem aus der existenziellen Einmaligkeit das soziale Drama erwächst, ist der Punkt des Spielbeginns, an dem sich der Mensch als homo ludens erweist, als spielender Mensch. Die Gesellschaft ist als großes Spiel zu verstehen. So behauptet es zumindest die Romanfigur. Ein nicht unbedeutendes Thema, bedenkt man die neuerdings aufkeimende Ansicht, Einsamkeit sei eine Krankheit und die Digitalisierung befeuere sie. Der homo ludens ist Schnee von gestern? Schon längst sei der Mensch digital geworden als homo digitalis? Angenehm erfrischend kommt da die naturdurchforschende archaische Konzeption von Minards Roman in diesem Trend-Wirrwarr um die Bestimmung des Menschen daher. Problematisch ist allerdings zum einen die aufdringliche Borniertheit, die der Handlung zugrunde liegt, und zum anderen, und das ist gewichtiger, die prahlerisch wortüberfrachtete Sprache.

Erstmals 2016 im französischen Original erschienen, dann im Februar diesen Jahres (2018) als Übersetzung bei Matthes & Seitz der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht, tritt Das große Spiel zu einer Zeit auf die Bühne, in der politische Krisen Konjunktur zu haben scheinen. Statt sich jedoch übereifrig in die Krisendiskurse einzumengen, Meinungen zu reproduzieren oder sich sublimen Wortgefechten hinzugeben, wird ein radikaler Gesellschaftsentzug geübt und über allzu menschliche Gedanken hinaus sinniert. Die Protagonistin entferne „sich vom Lärm“, erklärt Minard im Interview mit Deutschlandfunk:

„Sie zieht sich aus dieser immer so lauten menschlichen Gesellschaft heraus. Sie kappt die Verbindungen zum sozialen Leben und stellt sich einfach ein Stück weiter nach oben. Dadurch gewinnt sie eine Autonomie, die es ihr ermöglicht, aus der Distanz heraus auf die menschlichen Beziehungen zu schauen.“

Die namenlose Heldin beschreibt als Ich-Erzählerin akribisch die innere und äußere Auseinandersetzung mit ihrer selbstauferlegten Isolationsübung in der Natur. Wer sie unter Menschen war und warum sie sich in die Wildnis der Alpen zurückzog, bleibt unbeantwortet. Einem „Training“ habe sie sich verschrieben. Abwechselnd wird auf die Prozesshaftigkeit der Gedanken oder auf momentane physische Verrichtungen eingegangen. Die Einrichtung ihres Rückzugorts, ihres „Refugiums“, wie sie es selbst bezeichnet, lässt jedoch Vermutungen über ihren sozialen und kulturellen Status zu, die sich geradezu aufdrängen. So bildet diese Einrichtung einen modernen und warmen Ort hochkultureller Beschäftigungen, eine wohlbekannte Kultursphäre, bestehend aus Cello und Literatur, in der sonst rauen Wildnis. Auch die Worte, die Minard für ihre Protagonistin wählt, haben einen sachlichen und kultivierten Ton, wirken in der zunächst wortlosen Gegend bisweilen befremdlich. Der Roman ist überfrachtet von Worten, zu deren Verständnis ein gewisses Spezialwissen unabdingbar scheint. Von der detailbesessenen Bezeichnung etlicher Objekte der Kletterausrüstung bis hin zur belesenen Versprachlichung der Tier- und Pflanzenwelt. Nicht nur in der Erzählung vermisst und kartographiert die Protagonistin ihre Umgebung, sondern auch innerhalb ihrer Sprache inventarisiert sie die Dinge, bringt sie buchhalterisch in eine Ordnung. Die ehrenwerte Aufgabe, die sich Minard mit ihrer Protagonistin stellt, das Ergründen der vorsozialen Welt zur Begründung des sozialen Miteinanders, bleibt bereits in der affektierten Sprache der Autorin befangen. Die Suche nach dem Ort des Vorsozialen scheitert an der Sozialität des Ausdrucks.

Man könnte zwei Sprachen unterscheiden, die sich bis zu einem gewissen Grad unverständlich machen: Erstens die weltabgewandte Metaphernsprache, die Neologismen erdenkt und mit Abstrakta hantiert, die Risse und Brüche in die Konventionen des Denkens bringt. Zweitens die weltzugewandte Sprache, die noch für das letzte unbenannte Ding in der Welt eine klare Bezeichnung findet, die ordnet und hart ist in ihrem Bestehen auf Korrektheit, die mit dem Wörterbuch im Anschlag auf Eindeutigkeit plädiert. Die erste entzieht sich dem Verständnis, weil sie verwirrt, die zweite, weil sie immer mehr Vokabeln bereithält, als für jene verständlich, an die sie sich richtet. Die Romanfigur denkt und spricht in der zweiten Sprache, die zwar schnell unverständlich wird, aber weniger sich der Gesellschaft mit ihren Konventionen entzieht, als vielmehr herablassend sich vom Berg her der Welt zuwendet.

Das Spiel als die Grundvoraussetzung des Zwischenmenschlichen zu verstehen, ist keine neue Idee; wird im Roman aber auch nicht als solche gepriesen. Vielmehr versucht Minard die Grundbedingungen und Regeln in der Begegnung der Protagonistin mit einem zunächst unbestimmten Wesen zu konturieren. Dort, in der herrschaftslosen Höhe der Alpen, fernab von menschlichen Zwängen, liegt es nun an diesen zwei aufeinandertreffenden Geschöpfen, ihr zunächst anarchisches Verhältnis zu regulieren. Das vorsichtige gegenseitige Betasten der Naturbewohner bringt Minard erst einmal gekonnt in Bilder. Die Fragilität menschlichen Zusammenlebens wird ideenreich fassbar gemacht. Aber die Art und Weise, wie diese Fragilität oder Unklarheit über die gemeinsamen Regeln nicht bloß in der Sprache, sondern auch in der Handlung beseitigt wird, hat etwas versteift Herrschsüchtiges. Das zeigt sich im eitlen Ton, in dem der Roman geschrieben ist und bezeugt sich letztlich auch in der aggressiven Aneignung der Natur, die narrativ vollzogen wird. Alles, was sich bewegt und seinen Willen zeigt, soll der Alleinherrschaft der Protagonistin unterliegen. Das Spiel ist monologisch.

Bei aller Wertschätzung dem Unterfangen der Autorin gegenüber, sich dem Wust der aktuellen Debatten zu entziehen, um über die Grundfragen menschlichen Lebens zu philosophieren, bleibt doch festzuhalten, dass sich das dabei entstandene Buch über weite Strecken wie eine misanthropische Klage liest, befangen im selbst errichteten Zirkel elitärer Wortwahl. Der Roman ist intelligent konstruiert, konsequent und eigenwillig in seiner Narration, gemessen jedoch an seiner Zielsetzung missglückt. Das liegt vor allem an seiner gebieterischen Protagonistin und der verbissenen Selbstgenügsamkeit im Stil. Hier ist die Welt der Menschen etwas ruchlos Widerspenstiges, weshalb die unbewohnte Welt bepflanzt und sich Untertan gemacht wird. Was eine Kühle des Denkens repräsentieren soll, ist eigentlich unverbesserlicher Starrsinn. An dieser Stelle scheint es angebracht, absichtlich mit den kryptischen Worten eines Einsiedlerphilosophen zu schließen:

„Die Einsamkeit reift: sie pflanzt nicht.“ (F. Nietzsche)